Gestresste Schüler – ist die Gymiprüfung noch zeitgemäss?

Sie stresst Schüler*innen, zerstört Freizeitpläne und verändert das Familienleben: Die Aufnahmeprüfung für das Gymnasium steht wegen diesen Punkten häufig in der Kritik. Wäre es also nicht sinnvoller, nur die Vornoten zählen zu lassen und die Prüfung abzuschaffen? Oder hat das System noch eine Zukunft?

Die Experten sind zu dieser Frage gespaltener Meinung. Einige behaupten, Lehrpersonen könnten deutlich besser einschätzen, wer ans Gymnasium gehöre und wer nicht. Andere meinen, die Prüfung sei als Stresstest ein besserer Indikator für die Gymitauglichkeit. Jemand, der sich sehr gut mit der Prüfung auskennt, ist der ehemalige Prorektor des RG, Balz Bürgisser.

Prof. Dr. Balz Bürgisser, Jahrgang 1953, ist Gemeinderat in Zürich (Grüne), ehemaliger Mathematiklehrer und Prorektor am RG sowie Präsident des Quartiersvereins Witikon. Er führt auch das Nachhilfeunternehmen mathecoaching.ch und ist damit auch gut über die aktuelle Situation mit der Gymiprüfung informiert.

Ein Porträt von Prof. Dr. Balz Bürgisser

Bürgisser sieht im Verfahren an und für sich kein Problem. Die Hälfte der Note sollen die Primarschullehrer bestimmen, aber auch die Prüfung habe sich bewährt und stelle somit auch noch eine externe Bewertung dar. Das Problem liege jedoch in der Ausgangslage der verschiedenen Schüler und Schülerinnen, da ein Grossteil des Erfolges an der Prüfung von der Vorbereitung abhänge, denn ein Grossteil des an der Prüfung verlangten Stoffes wird nicht im Lehrmittel behandelt. Kinder von reichen oder gut gebildeten Eltern könnten sich private Vorbereitungskurse leisten oder mit den Eltern lernen, während andererseits Kinder und Jugendliche aus schlechtergestellten Familien auf sich selbst angewiesen seien. Häufig stelle für sie der schulische Gymnasiumsvorbereitungskurs, der in vielen Gemeinden gratis ist, die einzige Chance zur Vorbereitung dar. „Diese Kurse sind aber häufig qualitativ deutlich schlechter als die privaten Angebote“, so Bürgisser. Sie starteten zu spät und würden häufig von Lehrpersonen durchgeführt, die nicht für diese Kurse ausgebildet und aufgrund des Zusatzaufwandes zusätzlich unmotiviert seien. Mit privaten Kursen sei eine qualitativ hochwertigere und vor allem intensivere Vorbereitung möglich.

Diese Chancenungleichheit zeigt sich auch in den Quoten, wieviel Prozent der Kandidat*innen die Prüfung schlussendlich auch schaffen. An Gymnasien in Regionen mit hohem Einkommen sind die Bestehensquoten so zum Beispiel deutlich höher als in Regionen mit niedrigem Einkommen.

Die Gymiprüfung kreiert eine Pseudo-Chancengleichheit.

Balz Bürgisser

Um das Aufnahmeverfahren chancengerechter zu machen, schlägt Bürgisser vor, die Kurse in der Primarschule auszudehnen und qualitativ zu verbessern. Ausserdem fordert er Zusatzangebote für Kinder und Jugendliche, die aus schlechten Verhältnissen stammen. Auch ein generelles Vereinfachen des Aufnahmeverfahrens und mehr Plätze an den Gymnasien befürwortet er, denn die Schweiz würde von einer höheren Maturitätsquote profitieren. In Ländern wie Deutschland oder Frankreich liegt diese teilweise bei über 50 Prozent, während in der Schweiz zum Vergleich gerade einmal 20 Prozent die gymnasiale Matura machen, vielleicht auch, weil später noch eine Berufs-oder Fachmatura möglich ist. Ein einfacherer Eintritt ins Gymnasium würde zudem sehr viel Stress von den Schüler*innen nehmen. Wegen des aktuellen Lehrpersonenmangels ist diese Idee momentan aber nur schwer in die Tat umsetzbar.

Schulgebäude Rämibühl vom Pausenplatz aus
Immer mehr wollen an ein Langgymnasium. Bild: Von Adaeternum, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=4317298

Immer wieder wird aber auch eine Änderung des Aufnahmeverfahrens gefordert. Neben den eben genannten Punkten würde die Prüfung die Kinder und Jugendlichen zu sehr unter Druck setzen. Zudem könnte eine Lehrperson Fähigkeiten besser einschätzen und deshalb auch besser beurteilen, an welcher Schule der Werdegang am besten weitergehen sollte. In anderen Kantonen ist ein solches System bereits in Kraft. In Zürich hat sich jedoch aus Sicht der Politik das alte Verfahren bewährt, weshalb eine Änderung in absehbarer Zukunft wohl nicht stattfinden wird. Was allerdings erst letztens geändert wurde ist der verlangte Notenschnitt: Es wird jetzt eine 4.75 anstelle einer 4.5 gefordert, denn immer mehr wollen an ein Langgymnasium. Es wird jedoch befürchtet, dass die Erhöhung der Hürde dazu führt, dass sich die Schüler*innen noch intensiver auf den Test vorbereiten und damit den Schnitt weiter in die Höhe treiben.

Ob die Prüfung nun also eine gute Sache ist oder nicht lässt sich nicht so leicht beantworten. Und auch wenn Schätzungen zufolge 30 Prozent der Kantonsschüler*innen eigentlich ungeeignet für das Gymnasium seien, so ist es verhältnismässig dennoch ein guter Wert. Es ist also davon auszugehen, dass die Prüfung bleiben wird. Was meinst du? Schreibe es in die Kommentare!

2 comments

  1. Ein sehr qualitativer gelungener Artikel!

  2. Der Unterschied zwischen den guten und schlechten Verhältnissen habe ich selbst miterlebt. An meiner Primarschule haben gerade einmal 6 die Gymiprüfung gemacht, 4 haben bestanden. Insgesamt hatten wir 120 Schüler im Jahrgang. Wenn ich mir das mit bspw. Witikon vergleiche, wo die Erfolgsquote deutlich höher liegt, gibt mir das schon zu denken.

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