Warum haben manche Menschen grössere Schwierigkeiten im Umgang mit Krisen als andere? Eine Spurensuche im Gespräch mit dem Psychologen Fabian Grolimund.
Von Leonard Berner und Aaron Gaignat
Was macht es heutzutage aus, dass man ein Selbstwertgefühl empfindet, dass man einen Platz in der Gesellschaft findet? Diese Fragen stellen wir Jugendliche uns vielleicht häufiger, als Erwachsene denken. Die Beratungsstellen für psychische Probleme werden zunehmend überflutet: Liegt es daran, dass wir keine Perspektive mehr haben oder uns nicht mehr Mühe geben? Oder sind wir einfach in einer Welt aufgewachsen, die so viel Reichtum mit sich bringt, dass wir uns nicht mehr anstrengen müssen?
Gleichzeitig spitzt sich die Lage global zu, Klimawandel und Krieg schreiten voran. Mit dieser Unsicherheit geht jeder unterschiedlich um. Manche stecken viel Energie beispielsweise in das Aufhalten des Klimawandels, einige sind bereit, weit dafür zu gehen, vielleicht sogar zu weit. Es gibt andere, die einfach die Augen verschliessen und es abstreiten, und es gibt solche, denen es gleichgültig ist. Da ist aber noch eine Gruppe, nämlich die, welche überhaupt nicht mit den Themen umgehen kann, sich von allem erdrückt fühlt und keinen Ausweg sieht.
Ein Faktor aber spielt bei vielen dieser Fragen eine zentrale Rolle: Resilienz.
Zu diesem Thema können wir mit Fabian Grolimund sprechen. Er kann bei dabei aus langjähriger Erfahrung als Psychologe und Lerncoach schöpfen. Als Experte in den Bereichen «Lerncoaching mit Jugendlichen» und «Lernberatung mit Eltern» hält er schweizweit Vorträge, Weiterbildungen und Seminare zu Themen rund um den Schulalltag und das Lernen von Kindern und Jugendlichen.
Der Begriff «Resilienz» leitet sich aus dem lateinischen Wort «resiliere» ab, was so viel bedeutet wie «zurückspringen». Grolimund veranschaulicht es mit dem Bild eines Gummiballs, der kleiner wird, wenn man ihn zusammendrückt, nach dem Loslassen jedoch wieder in seine ursprüngliche Form zurückspringt. Und das ist eigentlich gemeint mit Resilienz: dass man nach einer Krise wieder zurückgeht zum Ursprungszustand, also eigentlich unbeschadet aus schwierigen Situationen herauskommt. Dabei hilft eine gewisse Form von Widerstandskraft, eine Art psychisches Immunsystem.
Optimismus und Zukunftsszenarien
In den Zeitungen ist zu lesen, dass die Anzahl Jugendlicher, die an psychischen Krankheiten leiden oder sich durch Stress belastet fühlen, stark zugenommen hat. Offenbar ist es um unsere Widerstandskraft beziehungsweise um unser psychisches Immunsystem nicht allzu gut bestellt. Wäre es nicht hilfreich, wenn wir besser verstehen könnten, welche Faktoren für die Resilienz eine Rolle spielen und wie wir diese selbst günstig beeinflussen können?
Wir fragen Grolimund, und er nennt als Erstes den Faktor Optimismus:
Grolimund: Das Bild, das heute von der Zukunft gezeichnet wird, ist meist düster. Fast jeder Film, der in der Zukunft spielt, handelt von einer bedrohten Welt oder dem Weltuntergang. Dieser ist meistens schon auf 2030 oder 2040 vorhergesagt. Auch in den Zeitungen überschlagen sich die Schlagzeilen von Katastrophen und düsteren Szenarien, während positive Wendungen, die einen eigentlich sehr hoffnungsvoll stimmen könnten, oft nur einen kleinen Platz finden. Das auszuhalten, ist schwierig. Wenn man sich einem Thema wie dem Klimawandel beschäftigt, kann man sich ganz auf die Katastrophe fokussieren oder aber nach Lösungen suchen: Wer hat gute Ideen, wo werden diese schon umgesetzt, was müsste noch passieren? Zu erkennen, dass es nicht nur Probleme gibt, sondern auch Menschen, die an deren Lösung arbeiten, gibt uns Hoffnung. Ein gesunder Optimismus stärkt unser Vertrauen, dass wir mithelfen können, eine bessere Zukunft zu schaffen, wenn wir uns darum bemühen. Denn wenn man keine Zuversicht hat, wird es schwierig, sich auf die eigene Zukunft zu freuen.
Selbstwirksamkeit und Schule
Eine düstere Vorstellung der Zukunft ist meist durch grosse globale Probleme wie Krieg und Klimawandel verursacht, deren Komplexität uns erdrückt und zu deren Lösung wir als einzelne Individuen nicht sehr viel beitragen können. Doch wenn man selbst etwas verwirklichen möchte, wäre es vielleicht einfacher, zu einem konkreten Thema im Leben eine Herausforderung zu suchen, eine kleine Baustelle, auf der es uns gelingt, aus den eigenen Ziegelsteinen ein kleines Haus zu bauen, etwas Konkretes zu erreichen. Selbstwirksamkeit, also das Gefühl, selbst etwas bewirken zu können, ist ein sehr wichtiger Resilienzfaktor.
Doch gerade der Wunsch, selbst einen Input zu haben, etwas Konkretes zu erreichen, ist für uns nicht leicht umzusetzen. Als Schüler beschäftigen wir uns vor allem mit dem Kopf, mit unserer täglichen Arbeit können wir nur wenig bewirken. Wenn im Gegensatz dazu ein Maurer eine Mauer baut, dann ist dies nachher seine Mauer. Und jedes Mal, wenn er daran vorbeigeht, weiss er: Das ist meine Mauer. Ausserdem erhält er für seine Arbeit einen Lohn.
Herr Grolimund, haben Gymnasiasten bezüglich ihrer Selbstwirksamkeit einen Nachteil?
Ja das kann ich gut nachvollziehen. Ich fand auch, während der Schulzeit werde man lange in dieser Vorbereitungsphase gehalten, so dass man das Gefühl hat, die ganze Zeit für ein Leben danach zu lernen. Und eine Möglichkeit ist natürlich sich zu engagieren. Ich finde die Fridays4Future-Bewegung in dieser Hinsicht wichtig. Auch für das Selbstwertgefühl sollte man sich Fragen stellen wie: Was sind meine Werte, was ist mir wichtig? Wie kann ich einen Beitrag leisten an eine Sache, die grösser ist als ich? Und wie kann ich meine Stimme erheben und etwas beitragen? Und dann halt einen Teil seiner Energie auch wirklich reinstecken.
Rolle der Eltern für Selbstwertgefühl
Es löst in uns oftmals ein negatives Gefühl von Einschränkung aus, wenn Erwachsene, vor allem Eltern, Verbote und Regeln aufstellen, auch wenn diese aus guten Absichten entstehen. Unserer Ansicht nach sollten die Erwachsenen uns begleiten und uns zum Nachdenken bringen. Grolimund findet in diesem Zusammenhang besonders eine Frage wichtig: Tut mir etwas gut? Und wenn nein, habe ich die nötige Disziplin, die nötige Selbstwirksamkeit, um etwas daran zu ändern? Erwachsene hätten in dieser Phase nicht nur die Rolle, uns etwas beizubringen, sondern uns auch zu begleiten und die richtigen Fragen zu stellen.
Welche Rolle haben Eltern für die Kinder?
Am Anfang spielen sie eine grosse Rolle. Selbstwertgefühl ist ein zentraler Faktor für Resilienz. Man kann entweder ein relativ schlechtes haben, das heisst, man findet sich selbst nicht liebenswert; es kann relativ stabil sein, oder es ist sehr an äussere Bedingungen geknüpft. Das heisst, man meint, man ist nur gut, wenn man leistet oder Anerkennung bekommt: Also muss ich mir mein Weg als Mensch ständig verdienen. Nach einer gewissen Zeit führt das zu einem bedingten Selbstwertgefühl, also damit ich liebenswert bin, muss ich XY machen, etwa erfolgreich sein, eine gute Figur haben. Ich finde aber, in eurem Alter ist die Peergroup, das sind oft Gleichaltrige mit ähnlichen Interessen, viel wichtiger. Man wird mitverantwortlich für die Kultur an einer Schule. Muss man bestimmte Kleider tragen, damit man dazugehört? Damit erzeugt man einen Druck, der auf die Stimmung schlägt: Wenn ich nicht konform bin, nicht das mache, was in meiner Gruppe Anerkennung findet, dann gehöre ich nicht dazu. Besonders schlimm ist das, wenn es an oberflächliche Merkmale geknüpft ist, wie beispielsweise gewisse Sneakers oder Pullis. Und da, finde ich, haben Jugendliche ganz klar eine Mitverantwortung: Sie können sich eindeutig gegen eine solche Kultur aussprechen im Freundeskreis und sich stark machen für eine Kultur, in der verschiedene Leute Platz haben, so dass man nicht immer konform sein muss, damit man dazu gehört.
Das setzt dann aber schon ein gewisses Selbstvertrauen und Optimismus voraus?
Das ist ein interessanter Punkt: Gleichzeitig ist es nämlich so, dass das Selbstwertgefühl wächst, wenn man Werte hat und für diese Werte einsteht. Zum Beispiel wenn eine Mitschülerin blöd angemacht wird aus irgendwelchen Gründen und man dann trotz Angst für sie einsteht. Wenn man aber untätig bleibt, sinkt das Selbstwertgefühl. Das tut es jedes Mal, wenn man die eigenen Werte korrumpiert.
Resilienz als Schulfach
Es ist offensichtlich, dass Resilienz ein sehr entscheidender Faktor in der Entwicklung von Jugendlichen ist, der vom Umfeld geprägt ist. Wäre es somit nicht richtig, vielleicht sogar notwendig, Resilienz als Schulfach einzubauen? Grolimund findet zwar, dass gewisse Aspekt des Themas Resilienz aufgegriffen werden sollen, und es sinnvoll sei, sich in der Schule darüber Gedanken zu machen, wie Kinder und Jugendliche gestärkt werden könnten. Es sollte aber nicht als Fach vermittelt werden. Vielmehr gelte es den Kindern allgemein zu zeigen, wie man mit Gefühlen umgehe, wie man sie wahrnehmen und ausdrücken könne.
Wie können Lehrpersonen Schüler dann dabei fördern?
Ein ganz wichtiger Resilienzfaktor sind die Beziehungen. Ich denke, es tut allen gut, sowohl den Kindern als auch den Lehrpersonen, wenn man sich aktiv um ein gutes Klassenklima bemüht. So wird vermittelt, wie man echte soziale Bindungen und Beziehungen führt. Eine gute Stimmung wirkt sich automatisch positiv aufs Lernen aus. In einer Klasse jedoch, in der im Hintergrund Mobbing läuft und man ja nichts Falsches sagen will, ist es wahnsinnig schwierig, sich beispielsweise auf den Französischunterricht zu konzentrieren. Man ist wirklich als Gemeinschaft dafür verantwortlich. Und ich finde, insbesondere am Gymnasium dürfen sich Lehrer hier nicht aus der Verantwortung stehlen, damit jedes Mitglied einer Klasse ohne Angst in die Schule kommen kann.»
Rolle der sozialen Medien
Die Relevanz von Social Media ist nicht zu übersehen. Es stellt ein riesiges Netz an Kontakten und «Freunden» zur Verfügung, so dass man ein gewisses Zugehörigkeitsgefühl erlangen kann. Aber wer sind eigentlich die richtigen Freunde, denen man Vertrauen kann? Sind es die hundert auf Instagram? Wir glauben eher nicht, jedoch sind diese auch nicht zu vernachlässigen, denn es braucht beide Arten von Freunden.
Grolimunds Meinung nach ist der Störfaktor bei der Bildung von Resilienz das Fehlen von guten sozialen Beziehungen. Man finde diesen Faktor immer wieder in der Forschung, ob zu positiver Psychologie, zum Thema Glück oder zu Resilienz. In ein gutes Beziehungsnetzwerk eingebunden zu sein, leiste einen wahnsinnig grossen Beitrag zu Resilienz. Es sei wichtig, dass man sich auf gewisse Freunde verlassen könne, wenn es einem einmal ganz schlecht gehe. Besonders, da es oftmals die Freunde sind, die dies als erste bemerken.
Würden Sie sagen, dass soziale Medien wie Instagram schädlich sind, indem man sich vorgaukelt, man habe Freunde, obwohl man keine echten Freunde hat?
Ja, das hat einen Einfluss. Sehr zentral finde ich, was man in der Pause oder nach der Schule macht: Geht man ans Handy oder redet man mit jemanden? Denn dieser Handykontakt ist kein wirklicher Kontakt, und zum Teil gaukelt uns das Handy vor, dass wir ein grosses und gutes Netz von Bekannten hätten. Das Problematische am Umgang mit Handys betrifft auch die Erwachsenen: Es geht die Fähigkeit verloren, sich wirklich auf andere Personen einzulassen. Man trifft jemanden und hat das Gefühl, diese Person sei mehr mit dem Handy beschäftigt als mit einem selbst. Social Media ist nicht per se schädlich, aber es macht diese Begegnungen ein Stück weit kaputt, nimmt Zeit weg und unterbricht ständig. Zudem gibt es Studien, die zeigen, dass man sich nach dem Konsum von sozialen Medien immer relativ schlecht fühlt, weil man sich mit dem Perfekten vergleicht: Man sieht da überall nur die Leute, die etwas am besten können oder am meisten erreicht haben. Dort ist es wichtig, dass man sich aktiv realistische Ziele setzt, damit ich eine Idee hat, wohin ich möchte und mich dann darüber freuen kann.
Haben Sie das Gefühl, ein hoher IQ sei ein Risikofaktor oder eher das Gegenteil?
Ein hoher IQ, aber vor allem auch eine gute Bildung korreliert positiv mit Resilienz. Im Normalfall sind intelligente Leute also resilienter als weniger intelligente Leute. Das heisst, Familien, die viel Wert auf Bildung als Selbstzweck legen, sind in der Regel besser dran.
Was hoffen Sie, nehmen Leser dieses Artikels als zentrale Botschaft mit?
Dass wir als Gesellschaft dafür verantwortlich sind, eine gute Zukunft zu schaffen, und dafür Gemeinschaften bilden müssen. Auch dass es wichtig ist, ein soziales Netzwerk zu haben und sich wirklich auch aktiv zu fragen, was einem wichtig ist: was die eigenen Werte sind und was man dazu beitragen kann. Und dass dafür niemand zu jung ist.
Unser Fazit: Viele der Faktoren, um Resilienz zu bilden und mental stark zu sein, sind eigentlich vorhanden. Allerdings werden sie manchmal zu wenig wahrgenommen, aufgrund von diversen Ablenkungen. Ebenso sollte man sich immer einbringen und ist für ein gutes Klima im Freundeskreis verantwortlich. Wie viel Resilienz man besitzt, ist neben äusseren Umständen auch von der genetischen Veranlagung geprägt: Menschen mit einem höheren IQ sind tendenziell besser gewappnet. Am Schluss liegt es aber auch an einem selbst, sich unter den gegebenen Umständen die Blumen von der Wiese zu pflücken, die man braucht.