Wächst mit der nächsten Generation eine asoziale Gesellschaft heran?

Es wird behauptet, die Generation Alpha sei nicht mehr lebensfähig. Ganz im Gegenteil kann es aber auch sein, dass die Jahrgänge 2010 bis etwa 2024 besser gewappnet sind für die neuen Herausforderungen der Zukunft.

Anthea Grell

Ein 30- jähriger Mann, nennen wir ihn Noah, ein Spross der Generation Alpha, verbringt schon den ganzen Tag alleine in seinem Zimmer. Die Fensterläden sind noch verschlossen, nur ein wenig Licht schimmert hinter seiner VR-Brille hindurch, während er mit seinen Händen in der Luft herumfuchtelt. Noah weiss nicht, ob es draussen regnet oder die Sonne scheint. Das interessiert ihn auch nicht. Man schreibt das Jahr 2044.

Noah wuchs in der Zeit von Corona auf. Sein erster Schultag fand über Zoom statt, während seine Eltern im Homeoffice arbeiteten. Der Junge fand sich mühelos und selbständig im virtuellen Raum zurecht und trat jeweils flugs dem Klassenmeeting bei. Ein Klacks für den Kleinen, schliesslich hatte er, seit er denken konnte, ein eigenes iPad. Die Freizeit verbrachte er vor seinem Tablet mit Netflix und YouTube, er unterhielt sich mit seinen Freunden mittels abgekürzter Anglizismen über Snapchat. An seinen Füssen trug er immer die neusten Sneakers, wie es sich für ein am Puls der Zeit gebliebenes Alphakind gehörte. Die Freude daran war allerdings jeweils nur von kurzer Dauer, denn die sozialen Medien hypten bereits wieder ein neueres Exemplar.

Es präsentierte sich eine ganz andere Ausgangslage als noch für die Generationen vorher, also die Generation Z und die Millenials, bestanden hatte.

Sind die jungen Leute der Generation Alpha (2010- 2024) zu verwöhnt, zu träge, zu oberflächlich? Die Vorurteile sind vielfältig: Die Alphakinder könnten Langeweile kaum mehr aushalten, alles müsse spannend und unterhaltsam sein, denn Unterhaltung sei seit Kleinkindsalter immer verfügbar gewesen, Fantasie ein Fremdwort.

Die Generation Alpha sei unselbstständig, weil die künstliche Intelligenz alles für sie erledigt, ebenso fehlten die Sprachkenntnisse. Der klassische Schulstoff hat ausgedient. Die neue Generation ist unzuverlässig und die herkömmlichen Anstandsregeln gehen verloren, weil im virtuellen Raum alles unverbindlicher ist und die Hemmschwelle für direkte Anfeindungen oder brüskierende Bemerkungen tiefer ist. Die Alphakinder sind asozial, so die verbreitete Meinung.

In einem Gespräch bestätigt die erfahrene Kinder- und Jugendpsychologin Anja Kümin, dass sich die Kinder der Generation Alpha nur schwer selber beschaftigen und regulieren könnten. Denn der Anreiz sei einfach zu gross, sich von Medien unterhalten zu lassen. Auch die Studienergebnisse von Rüdiger Maas bestätigen, dass die nächste Generation deutlich weniger selbständig und leistungsfähig sei.

Auch ist die Psychologin der Meinung, dass bei dieser Generation das Verhältnis zum Geld gestört sei. So lehne ein 6 Jahre alter Junge beispielsweise saubere und intakte Adidas-Nockenschuhe ab und verlange nach Nike-Tretern, weil diese im Moment gefragter seien.

„Ich glaube, ihnen wird von den Medien suggeriert, dass man alles haben kann und auch alles einfach verfügbar ist“, meint die Fachfrau. Ein weiteres Problem sieht die Psychologin auch darin, dass die heutigen Kinder zu früh in direkten Kontakt mit für sie schädlichen Informationen kamen. Sie seien gutgläubig und würden oft die bösen Absichten hinter den Informationen, die sie über das Netz erhalten, nicht erkennen.

Noah wird mit 30 Jahren wohl dennoch nicht asozial sein. Er verfügt virtuell über ein weites Kontaktnetz. Noah fühlt sich niemals einsam, denn irgendjemand ist immer online. Dabei vermisst er die Beziehung Auge in Auge auch nicht, da es für ihn gar keine grosse Rolle spielt, ob er seinen Kontakten in der realen oder virtuellen Welt begegnet. Zudem hat er von klein auf gelernt, sich mithilfe des Internets ein breites Wissen anzueignen. Diverse Games haben ihn spielerisch auf den digitalisierten Arbeitsmarkt vorbereitet. Er hat sich nicht nur Fingerfertigkeiten wie das Zehnfingersystem angeeignet, sondem sich fast unbemerkt im Programmieren geübt und die Verhaltensregeln im virtuellen Raum erlernt. Seiner Kreativität sind keine Grenzen gesetzt, denn Social Media bietet ihm die Plattform, sich selbst zu inszenieren. Er beherrscht sämtliche Tools im virtuellen Raum und bewegt sich mühelos darin. Noah hat sich nach einigen Enttäuschungen, Blossstellungen im Netz und Schreckbildern von Kriegen und sonstigen Gewalttaten eine dicke Haut zugelegt.

„Was du siehst, ist nicht immer real, und um diesen Unterschied zu erkennen, braucht es Zeit“, äussert die Psychologin. Für ältere Semester wirkt Noah dadurch zwar unnahbar, teils auch ruppig. Er ist damit aber angepasst an die Gesellschaft der 40er Jahre des 21. Jahrhunderts und gewappnet für den rauen Umgang in seinem schnelllebigen Alltag. Anders als noch die Generation Z interessiert er sich wenig für den demographischen Wandel. Er akzeptiert sein Leben, das durch die flexiblen Arbeits- und Freizeitmodelle auf ihn zugeschnitten ist.

Von sozialer Unfähigkeit kann nicht die Rede sein. Nur das Leben respektive die Lebensart hat sich unter anderem seit Noahs Geburt im Jahr 2014 grundlegend geändert.

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