Von Stuhlproben und schlafenden Schülern – 5 Geschichten aus dem Austauschjahr in Japan

Carol Schubiger mit ihren Schulfreund*innen

Carol Schubiger war elf Monate in einer japanischen Schule in Nagano. Sie hat die japanische Sprache und vieles über die Kultur gelernt. In diesem Erfahrungsbericht teilt sie ihre fünf krassesten Kulturschocks, die sie, die an den RG-Alltag gewohnt war, in ihrer Schule erlebt hat.

Im Unterricht wird geschlafen

Was mir sofort aufgefallen ist: Im Klassenzimmer herrscht Totenstille. Die Schüler*innen strecken nicht auf, sie bevorzugen es, auf ihrem Pult eine Siesta zu machen.

Jedenfalls habe ich es auf den ersten Blick so wahrgenommen. Obwohl in meiner Klasse 43 Schüler*innen waren, gab keiner während dem Unterricht einen Laut von sich. Dadurch, dass die Pulte separat stehen – wie bei uns während der Corona-Zeit -, wird es den Schüler*innen schwer gemacht, mit den Kolleginnen ihre Pausengespräche weiterzuführen, denn wer den Kopf bis zum Ohr des Nachbarn streckt, wird nicht lange unentdeckt bleiben. Und wenn ausnahmsweise mal der Stoff nicht verstanden wird, nimmt man das Problem bis in die Pause mit. Oder eben, man gibt auf und macht ein Nickerchen.

Mein Klassenzimmer an Matsumoto Kokusai-Schule

Fotografie von Carol Schubiger

Es war in Japan üblich, dass die meisten Schüler*innen während den Englisch- oder Japanisch-Lektionen geschlafen haben. Der Grossteil der Ruhenden kann im Sitzen schlafen. Ob man den Kopf auch einmal auf die Tischplatte legen konnte, lag an der Lehrperson. Und diese hat grundsätzlich nicht erwartet, dass die Schüler*innen von sich aus am Unterricht teilnehmen. Wenn eine Frage gestellt wurde, wählte die Lehrperson selbst aus, wer antworten soll. Und wer dann die Antwort nicht wusste, hatte eine peinliche Stille zu ertragen, bis die Lehrerin entweder einen Tipp gab, oder jemanden anderen dran nahm. Die einfache “Wer die Antwort weiss, streckt auf”-Unterrichtsart gibt es bei ihnen nicht.

Dies musste ich in meiner ersten Woche auf die harte Art lernen: Mit Freude, zum ersten Mal die Antwort auf eine Frage zu wissen, erhob ich meine Hand. Meine Mitschüler, die Lehrperson, alle drehten sich verwirrt zu mir um, da sie nicht recht wussten, wo mein Problem lag. Der Lehrer kam sogar persönlich zu meinem Platz, um mich zu fragen, was mir fehlte.

6 Tage die Woche, 12 Stunden

Ich ging nach Japan mit der stereotypischen Erwartung, dass dort die Menschen viel und beflissen lernen. Heute würde ich die Japaner*innen jedoch vor allem als beschäftigt beschreiben. Es ist zwar so, dass am Grossteil der Schulen in Japan auch am Samstag Unterricht stattfindet, jedoch gehört das Club-Leben zum Alltag fast aller High Schoolers. Das Club-Angebot unterscheidet sich zwar von Schule zu Schule, man kann aber zwei Gruppen unterscheiden:

  • Sport (Baseball, Fussball oder natürlich auch traditionelle japanische Sportarten wie Kendo, usw.)
  • Kultur (japanische Teezeremonien, Bands, usw.)

Hockey Club der Yokata High School

Quelle:
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Hockey_activity_club.jpg

Wer Mitglied in einem Sportclub ist, bleibt meist bis 19 Uhr in der Schule, bevor es nach Hause geht. Wenn alle Familienmitglieder diesen Stundenplan haben, kann sich das Abendbrot bis 21 Uhr oder auch später verschieben. Mann würde denken, die Schüler*innen im Wohnheim wären ein wenig schneller zuhause. Falsch gedacht; diese dürfen je nach Wochentag bis 20, selten auch 21 Uhr, in ihren Clubs trainieren, um dann direkt in der Schulkantine zu essen. Natürlich wollen wir bei diesem Punkt das Morgentraining einmal in der Woche nicht vergessen.

Jetzt fragt man sich vielleicht, “Wie hat man da noch Zeit, um für Prüfungen zu lernen?”. Die Antwort darauf ist einfach: Die Prüfungen werden in allen Fächern in der gleichen Woche am Stück geschrieben. Wenn man Glück hat, werden in dieser und auch der vorherigen Woche Clubaktivitäten abgesagt.

Japaner können kein Englisch

Sehen Japaner*innen einen Ausländer, fangen sie an zu schwitzen. Dann heisst es schnell: „Ai dont supiiku ingurishu!“ Oder in gutem Deutsch: “Ich spreche kein Englisch!” Selbst die IB-Studierenden in meiner Schule behaupteten, sie könnten kein Wort sprechen. Aber wieso drehen die Japaner*innen so durch, sobald sie mit ihrer ersten Fremdsprache konfrontiert werden?

Zum einen, werden sie gar nicht erst motiviert, ins Ausland zu gehen. Das Textbuch, mit dem wir das ganze erste Jahr gearbeitet haben, brachte immer nur ein einziges Szenario:

Ein amerikanischer, australischer, usw. Austauschschüler kommt nach Japan und mit diesem muss die Klasse auf Englisch kommunizieren und ihm die Japanische Kultur erklären.

Aufgabenblatt aus unserem Englischunterricht

Bild: Yuan He Ran

Man lernt die Sprache nicht, um sich im Ausland zurechtzufinden. Es ist auch nicht sehr hilfreich, wenn die einzige Aufgabe darin besteht, innerhalb von zwei Wochen einen Text auswendig zu lernen. Die darauffolgenden Kurztests bestehen dann aus den exakt selben Zeilen, nur als Lückentext, siehe dazu das oben abgebildete Arbeitsblatt. Oft bestanden diese Texte auch aus schwierigen Redewendungen oder Wörtern, die man selten benutzt. Dadurch hat der/die durchschnittliche High-School Schüler*in mindestens die Hälfte der Texte nicht verstanden. Aber das ist natürliche keine grosse Katastrophe, 80% der Englischlehrpersonen meiner Schule hatten ebenfalls Mühe, Englisch zu sprechen. Dies obwohl sich die Schule als “Matsumoto International”, also als Schule mit internationaler Ausrichtung, bezeichnet. Die Englischkenntisse, die man im IB-Lehrgang erwirbt, beschränken sich darauf, englische Konversationen einigermassen zu verstehen. Die Schüchternheit der Japaner*innen hindert sie jedoch daran, richtig sprechen zu lernen.

Schüler*innen als Putzkraft

Während wir im RG mehrere Putzkräfte haben, die für uns das Schulhaus sauber halten, benutzen die japanische Schulen ihre Schüler*innen als Minions. Das Bitten und Danken mit synchroner Verbeugung der Schüler*innen gegenüber den Lehrpersonen vor und nach jeder Lektion gehört genau so zur Kultur und zum Unterricht wie der Umstand, dass jeden Tag zusätzlich 15 Minuten mit allen Schüler*innen fleissig (oder in unserem Fall auch nicht so fleissig) die Schule geputzt wird. Dies sind beides eine Form von Respekt und Dankbarkeit gegenüber der Schule und den Lehrpersonen, ein wichtiger Teil der japanischen Kultur.

Demachi Jr. High, Toyama

Primarschüler in ihrer Sport Uniform bei der Schuljahresende-Hauptreinigung im März 2006

Schulreinigung? Alle wissen genau, was sie zu tun haben: Das Ämtchen wird selten gewechselt. Jeden Tag stapelt man die Stühle auf die Tische und schiebt sie nach vorne und dann wieder nach hinten, bis der ganze Boden geputzt ist. Andere Aufgaben sind: Fenster, Wandtafel, Gang, Treppen oder Toiletten zu putzen. Wie gut diese Ämtchen von den Schüler*innen übernommen werden, hängt natürlich von ihnen ab. Meist findet am letzten Tag vor den Ferien nach der Mittagspause ein grosses Putzen statt. Da wird der Unterricht abgesagt und “gründlich” geputzt. Ich weiss nicht, wie es in anderen Schulen ist, aber wir haben dann einfach die gleichen Tische immer wieder und wieder abgestaubt, bis die Zeit endlich vorbei war. Einen grossen Sinn hatte das Putzen mit Putzgeräten, die wahrscheinlich vor fünf Jahren das letzte Mal selbst gereinigt worden waren, aus meiner Sicht nicht. Dieses “grosse” Putzen dauerte meist aber auch nur um die 20 Minuten.
Die Leute hingegen, die wegen der Clubaktivitäten auch ausserhalb der regulären Unterrichtszeit in der Schule waren, durften noch weiter putzen. So auch in den Ferien, denn die meisten Clubs haben zu dieser Zeit auch Aktivitäten, wodurch die Schule ab und zu wieder geputzt werden muss.

Urin- & Stuhlprobe

Den japanischen Schulen liegen die Studierenden am Herzen. Es ist ihnen nicht nur wichtig, wie die Schüler*innen sich in- und ausserhalb der Schule verhalten, sondern sie kümmern sich auch um deren Gesundheit. Am Anfang des Schuljahres werden allerlei Tests durchgeführt, um sich der Gesundheit der Schüler*innen zu versichern. Neben der “Physical Exam” (Körpergrösse und -gewicht) gab es in unserer Schule auch einen Seh- und einen Hörtest, einen X-ray der Brust und eine Urinprobe. Was für uns sehr ungewöhnlich sein mag, ist in Japan Alltag und selbstverständlich.

Ein anderes für die Japaner selbstverständliches Ereignis im Schuljahr (das – neben der Urinprobe – ausnahmsweise auch spassig ist) ist das Schulfestival. Jede Schule hat einmal im Jahr für zwei bis drei Tage ein grosses Event, das auch der Öffentlichkeit zugänglich ist. Die Schüler*innen verkleiden sich, es gibt Vorführungen, in jedem Klassenzimmer gibt es eine Art Game oder Aktivität zu machen und am wichtigsten: Jede Klasse führt zusätzlich einen Stand, an dem Essen verkauft wird.

Photospot an einem Schulfestival

Zu den häufigsten Sachen, die verkauft werden, gehören Kaki-kōri (bedeutet “knirschendes Eis”, ähnlich wie Slushies), Tako-yaki (gebratener Tintenfisch in Teigbällchen) und Pancakes. Um diesen Stand aufmachen zu dürfen, müssen alle Schüler*innen der Klasse eine Stuhlprobe abgeben. Als es damals auch Zeit für mich war, diese Probe zu machen, wollte ich mich eigentlich drücken. Doch da wurde mir gesagt, dass, wenn auch nur jemand in der Klasse keine Probe abgibt, die ganze Klasse keinen Stand führen darf. Soweit ich weiss, sind dies Gesundheitsvorschriften, da man Ausbreitungen von Krankheiten verhindern wollte. Um meine lieben Mitschüler*innen nicht zu verärgern, ging ich um 8 Uhr an einem Samstagmorgen in den Sommerferien in die Schule, um meine Probe der Schulärztin abzugeben.

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8 comments

  1. Super interessanter Bericht. Liest sich flüssig und bietet viele Insights in eine Kultur, welche uns Westler meist verborgen ist. Freue mich umso mehr auf meine erste bevorstehende Japanreise

  2. Sehr gut geschrieben. Das Leben in Japan scheint in vielen Belangen sehr anders zu sein. Chapeau, dass die Austauschschülerin mit all dem fertig geworden ist. Ist auf jeden Fall eine Erfahrung fürs Leben.

  3. Sehr spannender Text! Die Kultur in Japan scheint in vielen Aspekten anders zu sein als hier.

  4. Toller Text! Aber wie kommt man überhaupt in ein Austauschjahr nach Japan? Muss man nicht die Sprache vom Land am RG lernen?

  5. Danke für diesen Bericht. Er ist super spannend geschrieben👍🏼 Ich hätte gerne noch mehr gelesen. Das war sicher ein tolles Erlebnis. Andere Länder, andere Sitten passt hier hervorragend.👍🏼

  6. Sehr interessant! Die Japaner mögen Regeln und halten sich daran. Die japanische Mentalität ist wirklich anders als unsere. Das ist gut in deiner Zusammenfassung beschrieben. Ich traue mich nicht einmal vorzustellen, dass ein Schüler hier bei uns im Unterricht schlafen würde …Auf Französisch sagen wir, dass Reisen die Jugend formen. Du bist mit einer zusätzlichen Erfahrung zurückgekehrt, und das ist unbezahlbarer Reichtum. Du warst sehr mutig, deine Familie für einen Aufenthalt am anderen Ende der Welt zu verlassen. Du kannst stolz auf dich sein😉👏👏👏

  7. Christina Enderli-Fässler

    Super spannend… till, hast du es so gut gehabt… toll, hast du di spannend und interessant darüber geschrieben! Ganz lieben Dank!🙏🏻👍🏻

  8. Tolle und spannende Einblicke! Vielen Dank und schön bist du wieder im Land!