«Ohne K&A wären viele Drogensüchtige einfach verloren»

Die Zürcher Drogenpolitik ist Vorbild für andere Städte im Ausland. Ihr Herzstück sind die Kontakt und Anlaufstellen. Zwei Mitarbeitende erzählen.

Ein unscheinbares Gebäude in der Stadt Zürich: In der Kontakt und Anlaufstelle Selnau finden Süchtige einen sicheren Ort für ihren Konsum. (Foto: Anna Vrkljan)

Das freundliche Gelände des Platzspitzes, zwischen Limmat und Sihl liegend, lässt dessen Geschichte schnell vergessen. Er sieht aus wie jeder andere Park: im Sommer grün, im Winter verschneit. Sauber. Die meisten wissen von den Szenen, die sich hier vor 30 Jahren abspielten. Doch das volle Ausmaß haben die wenigsten mitbekommen.

Die offene Drogenszene prägte Zürich in den 1980er und 1990er Jahren. Jeden Tag wurden 15’000 Spritzen verbraucht, jedes Jahr starben bis zu 400 Menschen. 1992 sah die Stadt keinen anderen Ausweg mehr, als den Platzspitz zu räumen, worauf sich die Szene an den Letten verschob. Doch statt Hilfe zu bieten, setzte Zürich auf Verbote. 

Die 90er bringen erste Durchbrüche

Anders sollte es erst mit einer non-profit Organisation werden, der Arbeitsgemeinschaft für einen risikoarmen Umgang mit Drogen (Arud). 1991 wird sie von jungen Ärzten und Fachleuten gegründet, um der Aussichtslosigkeit der Drogenszene entgegenzuwirken, erste Anlaufstellen entstanden 1994. Die Organisation begann damit, den Heroin-Ersatz Methadon an die Süchtigen abzugeben. Zürcher Opiatkonsumlokal (Zokl1), hiess die allererste Anlaufstelle und war eine Abgabestelle für Methadon. Zusätzlich kam noch das Zokl2 dazu, das Heroin an schwer süchtige Menschen abgab​. 

Katharina Lötscher hatte während des Medizinstudiums als Schalterfrau im Zokl2 gearbeitet und ist heute Psychiaterin. „Ich erinnere mich an diesen verrauchten Raum, wo ich mich manchmal mit den Menschen aufhalten konnte“, erzählt sie. Zum Alltag gehörte das Abmessen, Aufziehen und Austeilen des Heroins. Die Menschen sahen schwerkrank aus, hatten kaputte Venen, viele waren HIV positiv. Frauen verkauften oft auch ihren Körper, um das nötige Geld zusammenzubringen. „Es war schrecklich, ein großes Elend“, erinnert sich Lötscher. Sie glaubt, dass es weniger die Substanzen gewesen seien, die diese Menschen so erkranken liessen, sondern das schlimme soziale Umfeld.

Katharina Lötscher arbeitet heute als Psychiaterin – in den 1990er-Jahren war sie in einem Optiatkonsumlokal gearbeitet. Den Vorgänger-Räumen der Kontakt und Anlaufstellen. (Foto: Fototeam RG)

Lötscher erlebte den Anfang solcher Hilfeorganisationen für Süchtige, eine Reaktion auf die damals repressive Drogenpolitik. Für sie war der Staat am Platzspitz gescheitert. „Es wurde sehr stark auf Verbote gesetzt, statt auf Hilfeleistungen. Was sollte aber mit den tausenden Menschen geschehen?”, fragt Lötscher. Erst als Hilfeorganisationen wie die Arud saubere Orte zur medizinischen Versorgung aufbauten, besserte sich die Situation der Drogenabhängigen.

Weiterentwicklung zahlt sich aus

Heute gibt es den “Needle Park” nicht mehr, Zürichs offene Drogenszene ist scheinbar verschwunden. Trotzdem kursiert nun beispielsweise Kokain häufiger in der Stadt. Hat sich das Ganze nur hinter die Kulissen verschoben? Nein, meint Nabil Mohamed Ali, Mitarbeiter der Kontakt und Anlaufstelle (K&A) Selnau. Es gebe wirklich kaum noch Konsum in der Öffentlichkeit, eine grosse Verbesserung. Seit 12 Jahren arbeitet er hier und begleitet jeden Tag von acht bis fünf Uhr drogenabhängige Menschen beim sicheren Konsum. Menschen, die heutzutage Drogen konsumieren, seien medizinisch sehr gut versorgt. Drei Kontaktstellen gibt es in Zürich, “Recht viel, für eine so kleine Stadt, aber sie sind sehr wichtig”, sagt Ali. „Ohne sie wären viele Menschen einfach verloren.“

Moderne Anlaufstellen sind heute nicht mehr nur ein Ort des Konsums. Hier können sich die Menschen Verpflegen und Duschen. Aus einsamen Abhängigen, die hier konsumieren, sei eine Gemeinschaft geworden. Nabil Ali sagt, dass durch den Kontakt zu verschiedenen anderen Organisationen Obdachlosen beispielsweise eine Wohngelegenheit angeboten werden könne – „und das sogar kostenlos“. Dadurch gelinge es vielen Menschen, Schritt für Schritt wieder in ein geordnetes Leben zurückzufinden. Den Menschen sehe man heute gar nicht mehr an, dass sie mal Drogen konsumiert hätten. 

Menschen, die sich am Rand der Gesellschaft bewegen, sind in den Quartieren der Stadt nicht gern gesehen. Sowohl Katharina Lötscher wie auch Nabil Ali betonen, dass es schon immer kritische Stimmen gegeben habe. Also etwa, dass Menschen mit Suchtproblemen sich einfach zusammenreissen und arbeiten sollten. Aber: “Stellen Sie sich mal vor, alle K&A würden schliessen. Das würde sich sofort negativ auf unsere Gesellschaft auswirken”, sagt Ali. Er sorgt sich vor allem um Jugendliche, die von der Sichtbarkeit dieser Szene beeinflusst werden könnten. Ausserdem koste es den Staat am Ende weniger Geld, wenn er präventiv arbeite, meint Ali. 

Lötscher und Ali sind überzeugt, dass die Stadtzürcher  Drogenpolitik im Vergleich zu damals in den 1990er Jahren vorbildlich geworden sei. Andere Städte im Ausland könnten sich ein Beispiel an der Stadt Zürich nehmen. Unterstützung von engagierten Ärzten, Suchtfachleuten und freiwilligen Helfern seien dafür verantwortlich, warum die Stadtzürcherinnen und Stadtzürcher heute keinen Bogen mehr um Platzspitz und Letten machen müssen. Ali sagt: “Die Verzweifelten bekommen heute die Hilfe, die sie brauchen”. 

Artikel: Mia Wilhelmi

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