Wie hat der Krieg im Nahost den Antisemitismus in Zürich verändert?

Nach Kriegsausbruch im Nahen Osten hat die Zahl antisemitischer Tätlichkeiten zugenommen. Jüdinnen und Juden in Zürich bekommen das täglich zu spüren.

Sprayereien in Zürich: Der Kriegsausbruch im Nahen Osten polarisiert auch in der Schweiz. (Foto: Nicole Baumöhl & Nina Plaschy)

Ob auf dem Schulgelände, an der Bahnhofstrasse oder am Bellevue, die Fälle antisemitischer Vorfälle haben zugenommen. Seit dem 7. Oktober 2023, als die Hamas einen Terrorangriff auf Israel verübt haben, veränderte sich die Leben von Jüdinnen und Juden auf der ganzen Welt. Cyril Lilienfeld vom Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund (SIG) erzählt von einem jungen Mann, der im Zug sitzt und eine Davidstern-Halskette trägt. Er wird lauthals als «Massenmörder», «Kindermörder» und als «machtgeil» beschimpft. Auch erzählt er von einem orthodoxen, jüdischen Mann, der auf offener Strasse mit einem Schal gewürgt wird. In beiden Fällen wurden Menschen in der Schweiz allein aufgrund der Tatsache, dass sie jüdisch sind, für den Krieg im Nahost verantwortlich gemacht.

Solche physischen Tätlichkeiten gegen Angehörige jüdischer Gemeinschaften häufen sich. Die Zahl erhöhte sich von höchstens einem Vorfall pro Jahr auf sieben Vorfälle in zwei Monaten, und das sind nur diejenigen, die dem SIG gemeldet worden sind. «Es gibt nicht plötzlich mehr Antisemitismus als früher. Aber die Antisemiten getrauen sich jetzt mehr, ihre Meinung laut zu sagen», sagt Lilienfeld. «Antisemitismus ist salonfähiger geworden.» Fachpersonen sprechen hierbei von einem Trigger, einem Auslöser für antisemitische Vorfälle. Trigger können ein jüdischer Anlass, ein Zeitungsartikel über den SIG oder eben die aktuelle Eskalation im Nahost sein.

Was gilt als antisemitisch und was nicht?

Der SIG entscheidet anhand der Definition der International Holocaust Remembrance Alliance, was als Antisemitismus gilt und was nicht. Von Antisemitismus spricht man demnach bei Vorurteilen, Feindseligkeit oder Diskriminierung gegenüber Jüdinnen und Juden, aber auch wenn vom einzigen jüdischen Staat höhere Standards eingefordert werden als von anderen demokratischen Ländern.

Cyril Lilienfeld vom Israelitischen Gemeindebund. (Foto: Anna Tia-Buss)

Cyril Lilienfeld hat viel mit der Frage zu tun, welche Beleidigungen und Sprüche antisemitisch sind und welche nicht. Bei der Antisemitismus-Meldestelle des SIG gehen täglich Berichte zu Vorfällen ein. «Gemäss der IHRA-Definition gelten Aussagen wie ‹Fuck Israel› oder ‹Free Gaza› nicht als antisemitisch», sagt Lilienfeld. Man dürfe den Staat Israel und deren Entscheidungen kritisieren genau wie jeden anderen Staat auch. Beim Spruch «From the river to the sea, Palestine will be free» sehe das anders aus. Dieser Spruch wird oft an Demos für Palästina und die Palästinenser gebraucht. Er steht für die Forderung eines freien Palästinas im Gebiet vom Fluss Jordan bis zum Mittelmeer – also dort, wo Israel ist. Deshalb, erklärt Lilienfeld, spreche die Aussage dem Staat Israel das Existenzrecht ab und sei antisemitisch.

Das tägliche Leben der Jüdinnen und Juden

Täglich werden weltweit Jüdinnen und Juden mit blankem Hass konfrontiert. In einem Artikel von Tsri.ch berichten Zürcher Jüdinnen und Juden von «einem neuen Leben» seit dem 7. Oktober, das sich zerbrechlich, beängstigend und alptraumhaft anfühle vor allem für diejenigen, die ihren jüdischen Glauben in irgendeiner Art öffentlich erkennbar zeigen.

Cyril Lilienfeld sagt, in der Schweiz habe der Antisemitismus keinen grossen Einfluss auf das tägliche Leben von jüdischen Menschen verglichen mit Deutschland, Frankreich oder England. «Abgesehen vom 7. Oktober und in den darauffolgenden Monaten geht es den Jüdinnen und Juden in der Schweiz ziemlich gut. Die meisten haben eine schweizerische Staatsbürgerschaft und leben gerne und ungestört in der Schweiz.» Trotzdem gelte es wachsamer zu werden, sagt Lilienfeld. 

Massnahmen gegen Antisemitismus in Zürich

Mehr Aufklärung und Sensibilisierung seien auf jeden Fall nötig. Lilienfeld meint, der zweite Weltkrieg und der Holocaust müssten im Geschichtsunterricht eine grössere Rolle spielen. Vielen Schülerinnen und Schülern fehle es an Wissen und Verstand, was diese Zeit nicht nur für Jüdinnen und Juden, sondern für die ganze Welt bedeutet hat. «So bekämpfen wir Antisemitismus und sorgen für ein gutes Leben der Jüdinnen und Juden in der Schweiz.»

Artikel: Anne Gross

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